Extraktion ist zum universellen Schlagwort in der Specialty Coffee Szene geworden. Es scheint fast so, als wenn die perfekte Extraktion das einzige Kriterium für höchsten Kaffeegenuss geworden ist. Mit Refraktometern und anderen Gadgets bewaffnet, suchen wir nach der finalen Balance aus Säure, Süße und Bitterkeit. Muss Extraktion wirklich zu kompliziert sein? Oder kann die perfekte Extraktion vielleicht noch viel einfacher gefunden und genossen werden?
Tagtäglich suchen wir nach Wegen, Kaffee besser zu machen. Schon lange haben wir uns als Specialty Coffee Verfechter vom Mantra des Wachmachers verabschiedet. Kaffee ist komplex und vielschichtig, aber Kaffee sollte vor allem Spaß machen und unkompliziert sein. Die vielen Mythen rund um die perfekte Extraktion und dem idealen Espresso machen es Kaffeeneulingen nicht leicht, sich in der Welt der Spezialitätenkaffees zurechtzufinden. Das muss nicht sein.
Eine meiner wichtigsten Erkenntnisse ist, dass es beim Thema Kaffee sehr sehr häufig allgemeingültige Parameter, aber selten die eine absolute Wahrheit gibt. Die untenstehenden Zeilen sind daher auch nicht als endgültige Definition, sondern vielmehr als Gesprächsgrundlage und Anstoß zum Experimentieren zu sehen. Zudem widerspreche ich mir teilweise provokant aber auch ganz bewusst im Vergleich zu früheren Texten, denn meine Ausführungen sollen nicht einfach eine weitere "altbekannte" Abhandlung sein. Fangen wir an.
COMMON GROUND: KAFFEE RICHTIG BEGREIFEN
"Der Kaffee ist mir zu stark" - hast du das schon mal gehört? Oder "ich liebe starken Kaffee". Auch? Was meinen die Leute denn mit "stark" im Kontext Kaffee? Die meisten Menschen wollen starken Kaffee, weil sie sich müde und erschöpft fühlen. Ein Kaffee soll kräftig schmecken, weil damit das Gefühl von "stärkerer Wirkung" einhergeht.
Wir Kaffeenerds sprechen von "Stärke" beim Kaffee aber in Bezug auf "total dissolved solids" (TDS), also die Konzentration von "Kaffeebestandteilen" in einem Getränk. Ein Espresso hätte demnach ein TDS oder Stärke von ca. 10%, ein Filterkaffee von ca. 1,5%.
Daneben unterscheiden wir "Flavor" (oder Geschmack) und beschreiben diese Variable mit der Einheit "Intensität". Ein Kaffee kann demnach beispielsweise schwach sein und gleichzeitig ein intensives Blaubeeraroma aufzeigen. Er wäre entsprechend nicht "stark", aber dennoch intensiv. Ein "starker" Kaffee kann aber wenig Intensität aufweisen und stattdessen dominant bitter sein.
ÜBER- UND UNTEREXTRAKTION SIND FALSCH
Es hat sich eine falsche Sichtweise etabliert, denn: eine längere Extraktion führt nicht automatisch zu einer Überextraktion. Die Aussage, ein Kaffee sollte nicht länger als z.B. drei Minuten extrahiert werden, da er sonst ruiniert wird, ist schlichtweg ungenau bis inkorrekt. Die Maßeinheit einer Extraktion ist der prozentuale Anteil von Kaffeebestandteilen in unserem Getränk. Maximal können ca. 30% der wasserlöslichen Bestandteile aus dem Kaffeepartikel gelöst werden. Wir haben also eine Bereich von 0-30% Löslichkeit. Nicht-lösliche Bestandteile sind die Pflanzenfasern.
DER KNACKPUNKT
Laut der Specialty Coffee Association ist eine Extraktion von 18-22% im Bereich des "Gold Cup Standards", also der Extraktionstärke, die uns am besten schmecken sollte. Stellen wir fest, dass ein Kaffee eine Extraktion von 20% aufweist, ist dies aber lediglich ein Durchschnittswert: einige Bestandteile im Kaffee werden deutlich stärker extrahiert, andere deutlich weniger. Am Ende entsteht eine durchschnittliche Extraktion, die wir als Extraktion von 20% festhalten.
Wir müssen also feststellen, dass einige wasserlöslichen Kaffeebestandteile gar nicht, andere wiederum komplett extrahiert werden.
Um diesen Umstand weiter zu veranschaulichen, lass uns auf ein einzelnes Kaffeepartikel schauen. Es hat einen Durchmesser von ca. 0,5mm. Wird heißes Wasser zugefügt, trifft das Wasser zunächst auf die Außenseite des Kaffeemehls und beginnt hier auf massivste Weise die Extraktion der löslichen Bestandteile auf bis zu 28-30%. Dann dringt das Wasser tiefer ein und beginnt die Extraktion der nächsten Schicht der weiter innen liegenden Bestandteile. Schließlich erreicht das Wasser die Mitte des Kaffeepartikels und beginnt dort ebenfalls eine Extraktion.
DAS PROBLEM
Das Wasser dringt in das Kaffeemehl ein, aber dort bleibt es auch. Es gibt keine Kraft, die das Wasser aus dem innersten Teil des Kaffeekrümels wieder herausdrängt. So entsteht ein Gradient, bei der die äußeren Schichten massiv extrahiert werden und der innerste Teil des Kaffeemehls so gut wie keinen Beitrag zur Aromabildung in der Tasse leistet. Bei feiner gemahlenem Kaffee ist dieser Extraktions-Gradient kleiner, weil das Wasser leichter in das Kaffeemehl ein- und austreten kann. Bei grob gemahlenem Kaffee ist dieser Gradient entsprechend größer, da Wasser im Kaffeebrösel gefangen bleibt.
MEHR EXTRAKTION IST NICHT ÜBEREXTRAKTION
Laut SCAE und dem Gold Cup Standard empfinden wir Kaffeetrinker eine Extraktion zwischen 18 und 22% als angenehm. Weniger als 18% wird als wässrig, mehr als 22% als bitter wahrgenommen.
Wenn unsere "ideale" Extraktion also 20% beträgt, ist dies lediglich das Ergebnis aus überextrahierten Außenbereichen und unterextrahierten Innenbereichen des Kaffeepartikels. Erhöhen wir die Extraktion auf 21 oder 22%, müssen wir die innenliegenden Bestandteile des Partikels effektiver extrahieren.
Es ist also "alles oder nichts". Du wirst dich fragen: wenn die äußeren Schichten überextrahiert werden und die Kaffeepartikelschichten in der Mitte keinen Beitrag leisten, ist mein Kaffee immer überextrahiert? Jetzt müssen wir unterscheiden zwischen Überextraktion und "viel Extraktion".
Wenn die äußeren Schichten meines Kaffeemehls zu 25 bis 30% extrahiert werden und wir unseren Kaffee so genießen, warum und vor allem wann sprechen wir dann von Überextraktion? Einfach ausgedrückt: eine Überextraktion zeigt dir, dass du etwas falsch gemacht hast. Und das merkst du so:
WAS IST ÜBEREXTRAKTION?
Eines sollte mittlerweile klar sein: mehr Extraktion ist gut. Umso mehr Aroma du aus dem Kaffeemehl extrahierst, desto Geschmacksintensiver kann dein Kaffee schmecken. Aber: warum schmeckt dein Kaffee manchmal schlecht, wenn du eigentlich einfach nur mehr extrahieren wolltest?
Mal angenommen, du machst einen Espresso mit zu feinem Kaffeemehl. Während des Bezugs entsteht "channelling" und das Wasser sucht sich einen Kanal im Kaffeepuck. Im Ergebnis werden Teilbereiche des Kaffeemehls so stark extrahiert, dass selbst die innenliegenden Bestandteile so stark extrahiert werden, dass eine Überextraktion entsteht. Der Kaffee schmeckt dadurch nicht unbedingt bitterer, aber unausgewogen und schlecht.
Überextraktion ist also die ungewollte Überbeanspruchung einiger Teile des Kaffeemehls oder wenn dein Kaffeemehl zu viel heißem Wasser ausgesetzt wird und der Schwelle einer "ausreichenden" Extraktion überschritten wird.
Diese Schwelle zur Überextraktion wird auch durch die Röstung beeinflusst: wenn zusätzliches Wasser und / oder Wassertemperatur zu einer Extraktion von Aromen führt, die ungewollt sind, ist auch dies Überextraktion. Wichtig ist dabei stets der Geschmack: wie schmeckt dein Kaffee? Hat das zusätzliche Wasser zu einem ausbalancierterem Aroma in der Tasse geführt oder ist der Kaffee nun einseitig dominant?
Was die Sache weiter verkompliziert: eine vermasselte Überextraktion ist eine rein sensorische Wahrnehmung. Dein Refraktometer könnte bei zwei unterschiedlichen Brühvorgängen der gleichen Kaffees die gleiche Zahl anzeigen, dennoch schmecken die Ergebnisse in der Tasse unterschiedlich. Die Unterschiede können subtil sein, aber einer der beiden Kaffees schmeckt einfach besser.
Als Baristas müssen wir uns also von dieser einfachen und angenehmen Definition von 18-22% verabschieden. Wir müssen uns mit dem Gedanken anfreunden, dass wir weit weniger Kontrolle über die Extraktion haben, als uns lieb ist.
Wir müssen aber zum Glück nicht den Kopf in den Sand stecken. Letztlich soll Kaffee – wie wir zuvor beschrieben haben – einfach auch richtig viel Spaß machen. Zu verkopft an die Sache ranzugehen ist sicher nicht zielführend. Wir lieben die Praxis und werden deshalb praktische Tipps geben, wie dein Kaffee noch besser schmecken kann.
PRAKTISCHE APPLIKATION
Idealerweise müssten wir nun jedes einzelne Mikron unseres Kaffeemehls gleich stark extrahieren. Wir könnten dann den idealen Extraktionspunkt sensorisch feststellen und gleichzeitig hätten wir eine Stellschraube für die gewünschte "Stärke" des fertigen Getränks. Das geht natürlich nicht...
Aber: Um die Intensität (der Aromen) zu steuern, müssten wir sicherstellen, nur die Bestandteile zu lösen, die wir auch tatsächlich in der Tasse haben wollen. Umso größer der Extraktions-Gradient und damit auch der Bereich in dem wir keine definierte Extraktion haben, desto mehr ungewollte Bestandteile werden wir am Ende in der Tasse finden.
Zur Erinnerung: größer ist der Extraktionsgradient, wenn das Kaffeemehl gröber gemahlen wird. Bei feinerer Mahlung sinkt der Gradient.
Die innersten Bestandteile tragen nicht zur Verschlechterung des Geschmacks bei, weil sie schlichtweg keinen Beitrag leisten und geschmacklich keinen echten Unterschied machen. Sie sind einfach nur ineffizient für unsere Extraktion. Das Ziel ist demnach so viel wie möglich von dem zu extrahieren, was wir schmecken wollen. Hier finden wir wieder die so wichtige Unterscheidung der Begrifflichkeit "Überextraktion" und "mehr Extraktion". Wir wollen mehr, von dem, was uns gut schmeckt - das kann in Teilen des Kaffeepartikels zu einer gemessenen Extraktion von 25-30% führen.
OK: NOCH PRAKTISCHER
Ehrlicherweise müssen wir sagen, dass der Geschmack eines Kaffees häufig schon entscheidend geprägt wurde, bevor ein Barista die Kaffeebohnen in den Händen hält. Wenn eine Röstung (wie bei der Industrieröstung üblich) beispielsweise unterentwickelt ist und das Innere der Kaffeebohne nicht erreicht und nahezu roh belässt, kann auch ein guter Barista den Geschmack nicht mehr steigern. Oder wenn Kaffees dunkel geröstet wurden und die Bitterkeit aufgrund der Röstaromen dominiert.
Es kann durchaus vorkommen, dass selbst die besten Mühlen und wissenschaftlichsten Methoden aus einem Kaffee nicht mehr rausholen können als einen durchschnittlichen Kaffeegeschmack. Dann wiederum gibt es Kaffees, auf die du heißes Wasser schmeißt und die ohne viele Experimente einfach gut schmecken. Kennst du das?
Dennoch: wenn du den Geschmack deines Kaffees verbessern möchtest, kannst du etwas unternehmen.
PREBREW
Im ersten Schritt solltest du deinen gemahlenen Kaffee sieben. Die großen Brocken, die im Sieb hängenbleiben, beinhalten viele aromatische Bestandteile, an die das Wasser nie gelangen würde, bzw. die das Wasser nicht effektiv extrahieren könnte. Diese größeren Brocken solltest du erneut mahlen oder aussortieren. [Deshalb ist es besonders wichtig, eine gute Mühle zu haben. Teurer ist hier häufig tatsächlich besser.] Hochwertige Mühlen mahlen uniformer, so dass alle Partikel in etwa gleich große sind und gleichmäßiger extrahiert werden können.
BREWING
Idealerweise würden wir unseren Kaffee ultra fein mahlen, um das Aromapotential des Kaffees freizusetzen. Bei sehr kleinen Kaffeepartikeln (kleiner als 500 Mikrons) kann das Wasser sofort all die gewollten Bestandteile lösen. Innerhalb von nur 15 Sekunden werden 23% der Bestandteile gelöst. Wird die Extraktion auf 10 Minuten verlängert, steigt die Extraktion lediglich um 1-2%.
Kaffeepartikel ab 500 Mikrons extrahieren zu 13% innerhalb von 15 Sekunden und erreichen nach 10 Minuten eine Extraktion von 17% (Quelle: Barista Hustle). Die inneren Schichten des Kaffeepartikels tragen nichts zur Extraktion bei. Grundsätzlich können wir sagen, dass das Wasser bis zu 100 Mikrons tief in den Kaffeepartikel eindringt. Wasser dringt also weit weniger tief ein, als wir in der Regel denken.
Dunklere Röstungen könnten eine tiefere Durchlässigkeit für Wasser aufweisen, weil Kaffeepartikel dunklerer Röstungen poröser als bei hellen Röstungen sind. Das heißt, das Wasser muss weniger "arbeiten" um Aromen zu lösen.
Drip Coffee / Filterkaffee und auch Espressi haben aufgrund der Zubereitungsmethode natürliche Grenzen: wird das Kaffeemehl zu fein, kann das Wasser nicht mehr hindurchfließen. Andere Zubereitungsmethoden erlauben auch einen sehr feinen Mahlgrad, z.B. die French Press Stempelkanne, Aeropress oder Ibrik. In der Tat kannst du hier sehr viel feiner mahlen und damit experimentieren.
Unsere Erfahrungen zeigen, dass dein Kaffee zunächst sehr viel besser schmecken wird, bevor er schlechter schmeckt. Anders ausgedrückt: du wirst erstaunt sein, wie viel feiner ein Kaffee gemahlen werden kann, bevor die Schwelle zur Überextraktion erreicht wird.
GUTE TIPPS ZUM SCHLUSS
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Achte auf eine gute Röstung und lasse dir erklären, warum der Kaffee wie geröstet wurde. Dein Röster sollte dir auch erklären können, welche Aromen in der Tasse zu erwarten sind. Ich würde hellere Röstungen bevorzugen.
- Beginne mit der French Press: Ich würde bewusst mit dieser Zubereitungsmethode starten, da hier in der Regel ein grober Mahlgrad empfohlen wird. Gerade dann wird es interessant sein, die Unterschiede durch feineres Mahlgut festzustellen.
- Ändere immer nur eine Variable: wenn du deinen Kaffee beim Experimentieren feiner mahlst, stelle sicher, dass die Dosierung und das Brühverhältnis gleich bleibt. Andernfalls ist ein Vergleich nicht möglich.
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Lass dich nicht verunsichern, wenn die Extraktion nicht so klappt, wie du es willst. Manchmal liegt es nicht an dir.
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